Gründerin der Kinderpastoral rettete bis zuletzt mit Freiwilligen weltweit Menschenleben
CURITIBA/ ROM, 14. Januar 2010
Zilda Arns Neumann, die nach dem Erdbeben in Haiti im Alter von 75 Jahren von Trümmern erschlagen wurde, war nicht nur eine der berühmtesten Brasilianerinnen. Durch ihre Ideen im Dienst der Nächstenliebe und den unermüdlichen Einsatz für ihre Umsetzung rettete sie in vielen Ländern zahlreiche Menschenleben. Kurz vor Zilda Arns Neumanns 75. Geburtstag im vorigen Jahr besuchte sie Michaela Koller in der südbrasilianischen Stadt Curitiba. Im folgenden Porträt beschreibt Koller ihre Erinnerungen an die Begegnung mit diesem großen katholischen Vorbild: Tagelang hatte es brasilianischen Bundesstaat Paraná geregnet. Dann strahlte plötzlich wieder die Sonne über Curitiba, wo die Luft für eine brasilianische Großstadt erstaunlich frisch war. Die Zentrale von Pastoral da Criança (Kinderpastoral) liegt auf einer Anhöhe mit einem atemberaubenden Ausblick über die Stadt. Zilda Arns Neumann stand im schattigen Gang vor ihrem Büro, ihr schwarzer Hut mit hell bestickter Krempe warf noch zusätzlich Schatten auf ihr Gesicht.
Es sah aus, als sei sie im Aufbruch, aber sie war gerade zurückgekehrt: „Sie kommen aus Deutschland? Ich bin gerade ganz in der Nähe gewesen. In Brüssel”, eröffnete Arns Neumann das Gespräch, mich freundlich in ihr Büro bittend. Durch die hohen Fenster fiel ein Strahl der brasilianischen Wintersonne in den Raum und erhellte endlich das Gesicht der weit Gereisten, auf dem sich ein feines Lächeln zwischen charakteristischem Kinn und ebenso markanter Nase abzeichnete. Zilda Arns Neumann, Leiterin der größten Freiwilligenorganisation Brasiliens, war jene, die Mitte der achtziger Jahre die relativ hohe Kindersterblichkeit in ihrem Heimatland drastisch senkte. Mit 75 Jahren war sie immer noch im Dienste ihrer Organisation “Pastoral da Criança ” unterwegs. Vor ihrem Aufbruch nach Haiti, der ihr letzter sein sollte, war sie noch weltweit im Einsatz. So etwa im vergangenen Herbst, als der SIGNIS-Kongress in Thailand sich mit der Frage beschäftigte, wie das Thema Kinderrechte stärker und eindeutiger in die internationalen Medien gelangen kann. Dort gab die mediengewandte Zilda Arns Neumann in einer Eröffnungsrede etliche Anregungen.
„Ich reise von dort nach Osttimor weiter”, berichtete sie bei der Begegnung in ihrem Büro. Zilda Arns Neumann war bereits ein Jahr vor der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 2002 eingeladen, ihre Arbeit dort einzuführen. Die ehemals von Indonesien beherrschte, einstige portugiesische Kolonie brauchte dringend gesundheitspolitische Unterstützung. Osttimor hat noch immer eine katastrophale medizinische Infrastruktur. Oft erreichen Eltern für ihre kranken Kinder nur nach stundenlanger Fahrt über holprige Straßen Hilfe von Ärzten, wenn überhaupt. Die Organisation der Kinderärztin und Expertin für öffentliche Gesundheit rüstet seit ihrer Gründung 1983 Familien mit dem Wissen aus, wie Säuglinge und kleine Kinder im Notfall versorgt werden und möglichst vor Gefahren, Krankheiten sowie Mangelerscheinungen bewahrt werden.
Auch das Thema Gewalt an Kindern bringt Pastoral da Criança immer wieder auf den Tisch, sterben doch einer jüngst veröffentlichten Unicef-Untersuchung zufolge in Brasilien pro Jahr rund 5.000 Kinder durch Gewaltakte, hauptsächlich in den brasilianischen Armutsvierteln. Familienangehörige lernen beispielsweise, Unterernährung bei ihren Kleinen frühzeitig zu erkennen oder Atemwegserkrankungen sowie Diarrhö zu bekämpfen. Zilda Arns nannte zwei Beispiele, wir den Kindern mit schlichten Mitteln geholfen werden kann: „Ein Glas Wasser, zwei Löffel Zucker, zwei Löffel Salz, das rettet Leben bei Durchfall”, sagte sie. „Wir zeigen den Müttern auch, wie sie selbst noch aus Eierschalen, die sie sonst wegwerfen würden, ein Getränk herstellen können, das viel Kalzium hergibt.” Um die Eltern mit diesen Empfehlungen zu erreichen, dachte sich die Kinderärztin ein einzigartiges System aus: Kenntnisse über gesunde Ernährung, Hygiene, Erziehung sowie Staatsbürgerrechte werden über Freiwillige weitergegeben, die sich in Tausenden von Gemeinden in Lateinamerika, Afrika und Asien mit Material schulen lassen, das Zilda Arns im Team entwickelte. Mit ihrem Wissen besuchen die Freiwilligen jeden Monat Familien und fangen mit der Weitergabe möglichst schon bei werdenden Müttern an. Die Familien innerhalb einer Gemeinde wiederum werden dazu angehalten, sich bei der Umsetzung des Gelernten solidarisch zu unterstützen. Öffentliche Veranstaltungen, Filmmaterial oder auch eine wöchentliche Radiosendung unterstützen die Aktiven bei ihrer Bildungsarbeit. Eine Grundregel der Arbeit von Pastoral da Criança ist die Hilfe zur Selbsthilfe mit einfachen Mitteln, die gar nichts oder nicht viel Geld kosten. „Wir geben keine Hilfe in Form von Lebensmitteln. Damit fangen wir nicht an, das wäre sehr gefährlich”, warnte Zilda Arns vor dem Risiko, Tausende von armen Familien in die Abhängigkeit zu bringen.
Ihr Bruder, Paulo Evaristo Kardinal Arns, vormals emsig sozial engagierter Erzbischof von São Paulo, war gerade auf einer Zusammenkunft bei der UNO in Genf, als ihm der damalige Unicef-Direktor, James Grant, den entscheidenden Anstoß gab: „Die katholische Kirche könnte viele Kinder retten, wenn sie die Mütter lehrt, wie sie noch besser auf sie aufpassen.” Das waren laut Zilda Arns die Worte des Kinderhilfswerk-Chefs im Mai 1982. Gleich nach der Rückkehr aus Genf habe sie ihr Bruder angerufen und Hilfe bei der Umsetzung der Idee erbeten, erzählte sie. In Curitibas Stadtteil Uberaba war Zilda Arns schon seit den 60er Jahren dafür bekannt, dass sie noch stundenlang nach Feierabend als Kinderärztin kleinen Patienten annahm, deren Eltern wenig bis gar kein Geld für eine Behandlung hatten.
„Ich musste damals an die wunderbare Brotvermehrung in der Bibel denken”, erinnerte sich die Kinderäzrtin an ihre ersten Ideen zur Gründung von Pastoral da Criança. Jesus reichte, wie die Evangelien berichten, den Jüngern fünf Brote und zwei Fische und diese gaben sie dem Volk. Fünftausend Männer, ihre Familien nicht mit eingerechnet, wurden damit versorgt. Die Beschreibung, wie die Speisen verteilt wurden, habe sie dazu inspiriert, die Weitergabe des lebensrettenden Erkenntnisse in kleinen Gemeinschaften zu organisieren und so das Wissen quasi “wie die fünf Brote” zu vermehren. „Ich stamme aus einer sehr katholischen Familie”, sagte Zilda Arns über ihre Sozialisation: Die Arns’ haben drei Ordensfrauen, einen Franziskanerpater und einen Kardinal hervorgebracht. Aktuell ist Pastoral da Criança eine der weltweit größten Nicht-Regierungsorganisationen auf ihrem Fachgebiet, die unter anderem Unicef als Partner nennen darf.
Über die Sprachgrenze hinweg hat sich die Organisation auch in einer Reihe spanischsprachiger Länder Lateinamerikas ausbreiten können, ebenso wie sie innerhalb der portugiesischsprachigen Gemeinschaft auf den afrikanischen Kontinent kam und zudem im frankophonen Guinea sowie in den beiden katholischen Staaten Asiens, den Philippinen und Osttimor arbeitet. Die meisten Familien werden in Brasilien betreut. Allein in dem fünfgrößten Land der Erde erreicht Pastoral da Criança regelmäßig 1,8 Millionen Kinder vor und nach der Geburt, die in ärmeren Gemeinden oder Stadtteilen leben. „Aus Nächstenliebe lernen und arbeiten die Freiwilligen viel, es ist das wichtigste Gebot in der Bibel”, sagte Zilda Arns über die Motive der Mitwirkenden. Sie betonte aber, bei ihrer Tätigkeit weder auf Herkunft noch auf „die Hautfarbe oder die Religionszugehörigkeit der Menschen” zu achten. Ihren Einsatz hat die Organisation inzwischen auch auf Guinea-Bissau ausgedehnt, das an der Westküste Afrikas liegt, wo nur zehn Prozent Christen, dagegen 50 Prozent Muslime und 40 Prozent Anhänger vor Naturreligionen leben.
In ihrer Aussprache klang immer noch ein leichter Dialekt an. „Im Jahr 2005 war ich in Deutschland eingeladen und habe auch in Reil an der Mosel in einer Schule gesprochen”, erinnerte sich Zilda Arns Neumann. Die 1200-Seelen-Gemeinde zwischen Trier und Koblenz ist der Herkunftsort ihres Vorfahren August Arns, der einst nach Brasilien auswanderte. Immer noch leben dort entfernte Verwandte von ihr, die gleichnamige Winzerfamilie, aus der auch schon eine Weinprinzessin namens Theresa Arns hervorging. Die brasilianischen Verwandten der Moselprominenz haben es zu nationaler Bekanntheit gebracht, nicht nur durch Zilda Arns Neumann und ihren bereits erwähnten Bruder im Kardinalspurpur. Die Menschen in Curitiba nennen auch gerne den Neffen Flávio Arns, Senator des Bundesstaates Paraná, der sich als Politiker der regierenden Partido dos Trabalhadores (PT) für körperlich und geistig Behinderte einsetzt. Ebenso stark, wie einige Mitglieder der Familie gesellschaftspolitisch präsent sind, stehen die Arns’ selber auch zahlreich da: Insgesamt 16 Söhne und Töchter hatten Zilda Arns Eltern Helena und Gabriel Arns. Eines von ihnen ist schon als Kleinkind gestorben. Und die Gründerin von Pastoral da Criança hat sechs Kinder zur Welt gebracht, davon aber eines selbst schon als Säugling verloren. Für die Erziehung von drei Söhnen und zwei Töchtern war sie weitgehend allein verantwortlich. „Als Pastoral da Criança gegründet wurde, war ich erst seit wenigen Jahren Witwe”, erzählte sie beim Gespräch mit ZENIT. Und die Antwort auf die folgerichtige Frage, wie sie das alles geschafft hat, nahm sie bescheiden vorweg: „Ich hatte immer gute Kindermädchen.” Insgesamt zehn Enkel und Enkelinnen, im Alter zwischen zwei und 17 Jahren trauern nun um ihre Großmutter. Beim Interview zählte sie alle einzeln mit Namen und Alter auf. Eine ihrer Söhne, Nelson Arns Neumann, arbeitet bei Pastoral da Criança als stellvertretender Koordinator für Brasilien. In seinem Büro im Erdgeschoss der Organisationszentrale führte er bei dem Besuch an seinem Bildschirm die jüngste PR-Strategie vor.
Für eine Kampagne gegen die Gefahr des Plötzlichen Kindestodes, in deren Rahmen sie die Rückenlage der Babys propagieren, darf einer der beliebten brasilianischen Telenovelas herhalten. Eine Szene die in Indien spielt, zeigt einen Säugling mit einem Hemdchen von Pastoral da Criança, Schleichwerbung für einen guten Zweck. Zilda Arns und ihre Mitstreiter schafften es in kürzester Zeit, die Säuglingssterblichkeit drastisch zu senken: Zur Zeit der Gründung von Pastoral da Criança sind in der Stadt Florestópolis im Bundesstaat Paraná noch 127 Sterbefälle auf 1000 Geburten gekommen. Nach nur einem Jahr Arbeit war dort die Zahl auf 28 pro 1000 Neugeborener gefallen. Aktuell sind es in den von den Freiwilligen betreuten Gemeinden noch 13, im brasilianischen Landesdurchschnitt dagegen 34,6 Kinder, die nach der Geburt sterben.
Insgesamt 22 brasilianische Gesundheitsminister hat die Kinderpastoral-Gründerin in ihrem Leben beraten. Zudem war sie Mitglied des von Präsident Lula da Silva eingerichteten brasilianischen Rates für wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Mehrfach fieberte die katholische Welt mit Brasilien, kurz bevor das Nobelkomitee in Oslo die Namen der Preisträger bekannt gab: Die Präsidenten Fernando Henrique Cardoso sowie Luiz Inácio Lula da Silva hatten Zilda Arns insgesamt viermal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Sie wäre eine unumstritten geeignete Kandidatin für diese höchste Auszeichnung gewesen. Nun ist es zu spät. Vor dem Büro im Erdgeschoss verabschiedete Zilda Arns Neumann ihren Besuch mit einem herzlichen „Dankeschön”. Es sollte ein Abschied für immer sein.
Erschienen: 14.01.2010 ZENIT Deutsch