Eine Chronologie der Schande

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Foto: Michaela Koller | Christen sind von der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen in Pakistan besonders betroffen, wie hier in dieser Ziegelei, wo auch Kinder unter unwürdigen Bedingungen schuften müssen.

Unwürdige Arbeitsverhältnisse, verleumderische Diffamierungen und ein gewaltbereiter islamischer Mob setzen den Christen Pakistans zu.

Seit Jahren ist die Lebenswirklichkeit in Pakistan zunehmend von Bombenattentaten gezeichnet und von der Gefahr, persönlich ins Fadenkreuz von Islamisten zu geraten, wie der vor sechs Jahren ermordete Minderheitenminister Shahbaz Bhatti, den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin in einem in dieser Woche erschienenen Buch als Mann mit einem Glauben aus Granit würdigte.

Über diese Lebenswirklichkeit kann man als Besucher rasch mehr erfahren als gewünscht: Während wir – mit uns sind Bischof Thomas Schirrmacher von der Weltweiten Evangelischen Allianz als Präsident des Rates der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) und seine Frau, die Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher – in einem Hotel in Lahore zu einem informellen Austausch über die Zukunft der Menschenrechte in der Region zusammensitzen, drängt sich ein Unbekannter in den Kreis, greift ungefragt nach Visitenkarten. Die pakistanischen Gastgeber sind verunsichert: Zivile Sicherheitskräfte hätten die Namen der Versammelten vom Hotel erfahren können. Aus Vorsicht bleiben alle noch länger als geplant sitzen. Beim Verlassen des Hotels achten sie verschreckt darauf, dass ihnen niemand von dort folgt.

Auf dem Weg in die Stadt geraten wir in einen Verkehrsstau, verursacht durch die Sperrung unmittelbar nach einem Bombenattentat vor dem Provinzparlament. Inmitten einer Menschenmenge Protestierender starben bei dem Selbstmordangriff 13 Menschen, 83 weitere wurden verwundet. In derselben Woche sollten noch drei Explosionen Pakistan aufschrecken lassen, darunter auf die Sufi-Pilgerstätte des unter ihnen als Heiligen verehrten Lal Shahbaz Qalandar in Sehwan, einer Stadt in der südlichen Provinz Sindh, bei dem 88 Menschen grausam zu Tode kamen. Während in Lahore pakistanische Taliban der Gruppe Jamaat-ul-Ahrar sich zur Tat bekennen, zeichnet in Sindh die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) für den Akt verantwortlich. Zweimal flammt die Gewalt in diesen Tagen in Lahore, der Hauptstadt der an Indien angrenzenden Provinz Punjab, auf, das zweite Mal auf einem Marktplatz in unmittelbarer Nachbarschaft unserer Gastgeber.
Dort, bei der pakistanischen Menschenrechtsanwältin Aneeqa Anthony, treffen wir Überlebende und Angehörige von Opfern des Bombenattentats im Gulshan-e-Iqbal von Ostern vorigen Jahres mit einer Bilanz von 72 Toten. Jamaat-ul-Ahrar hatte damals erklärt, gezielt Christen ins Visier genommen zu haben, die den Feiertag dort fröhlich verbringen wollten.

Eine 50-jährige Frau rutscht im Gespräch auf einer schwarzen Ledercouch sitzend auf einmal weit nach vorn, streift den Ärmel über ihren linken Arm nach oben und legt die Narben ihrer Verletzungen offen, die sie bei dem Angriff erlitten hatte. Tiefe Fleischwunden an Arm, Nacken und Hinterkopf seien ihr zugefügt worden. Sie sei froh, wenigstens überlebt zu haben. Ein kleiner kräftiger Mann mit breiten Schultern berichtet, wie sein 16-jähriger Sohn bei dem Attentat schwer verletzt wurde und nur langsam auf die Beine kommt. Auf die Frage, wie es ihm dabei gehe, wenn er so eine Woche wie diese, in der der Terror erneut aufflammt, erlebt, sagt er leise, fast flüsternd: „Wir wissen morgens nie, ob wir abends wieder nach Hause kommen.“

Der Eindruck, der sich bei Beobachtern festsetzt, ist, dass die Regierung die Gewalt nicht in den Griff bekommt. Keinerlei Gewalt, weder die importierte des IS, noch die einheimische der pakistanischen Taliban, aber auch nicht die ganz alltägliche Gewalt von Hasspredigern aufgehetzter Massen, des mächtigen Landeigentümers gegenüber seinen Arbeitern – oder die gegenüber Frauen und Kindern.

Dazu bedarf es eines Heers an Predigern, die zu Rechtschaffenheit und Verständigung anleiten. Als so einer gilt Maulana Abdul Khabir Azad, Großimam der Badshahi Moschee, der kaiserlichen Moschee in Lahore, wo einst einer der vier Herrschaftspaläste der Mogulkaiser stand. Seine Moschee ist eine der größten weltweit.

„Zuweilen sind es rund 100 000 Menschen, die sich hier zum Gebet versammeln“, sagt Maulana Abdul Khabir Azad, dabei in die tief stehende Sonne blinzelnd. Im Gegenlicht wirkt der Innenhof des prächtigen roten Sandsteinbaus aus dem 17. Jahrhundert unwirklich schön.
Seine Besucher führt Azad in eine der mit Ornamenten verzierten Nischen, stellt sich selbst gegenüber in die Mihrab-Nische und beginnt zu rezitieren. Obwohl es noch einen Moment zuvor notwendig war, ganz nah an ihn und seinen Dolmetscher herantreten zu müssen, um sich verständigen zu können, hallt seine Stimme nun wie durch einen unsichtbaren Verstärker direkt ins Ohr seiner Zuhörer.

Im anschließenden Gespräch bei Mangosaft und Samosas (Blätterteigpasteten) kritisiert der Großimam, dass Gewalt und Terrorismus auch in seinem Heimatland Spaltungen vertiefen. Sein Vater, Muhammad Abdul Qadir Azad, begründete vor 40 Jahren den interreligiösen Dialog in Pakistan, „zu einer Zeit, in der es noch nicht möglich war, zusammenzusitzen“, wie er betont. Der vormalige Imam der zweitgrößten Moschee des Landes verstarb 2003 und war dafür bekannt, dass er auch mal eine Kirche wiederaufbauen half, die Extremisten zerstört hatten. „Der Grund für den interreligiösen Dialog ist sehr klar. Ich bin der Meinung, dass ungeachtet der Farbe, der Religion, des Glaubensbekenntnisses sich alle Bürger des Landes verpflichtet haben, in diesem Land zusammenzuleben und so Freiheit genießen und sich daher an einer Beziehung zu allen anderen beteiligen müssen“, sagt sein Sohn, der in die väterlichen Fußstapfen treten möchte.

Wenn die Situation zu eskalieren drohe, greife er schon mal selbst ein. Als im März 2013 ein Mob brandschatzend durch Lahore zog, nachdem ein Streit zwischen zwei Weggefährten zu einem Blasphemie-Vorwurf gegen den Christen Sawan Masih ausgeartet war, habe er sich vor Ort begeben, mit den Leuten geredet, mit ihnen gebetet und danach seien sie schließlich friedlich abgezogen.

Durch die Gewaltwelle, die als „Joseph Colony-Vorfall“ in die Geschichte eingegangen war, waren zu diesem Zeitpunkt bereits rund 100 Häuser von Christen dem Erdboden gleich gemacht worden. Der Christ wurde schließlich zum Tode verurteilt, während 115 Verdächtige vom Verdacht der Mitwirkung an der Brandschatzung in diesem Februar freigesprochen wurden. Eine „Chronologie der Schande“ nannte dies ein christlich-pakistanischer Kommentator.

In der Geschichte der umstrittenen Blasphemie-Gesetze, die mehr Gewalt entfachen, als ihre Urheber zu verhindern vorgeben, hat es bislang erst einmal ein prominentes Urteil gegen die Lynchjustiz gegeben: Im November wurden fünf Todesurteile gegen Rädelsführer verhängt, die im November 2014 zur Jagd auf ein christliches Ehepaar angestachelt hatten. Die Opfer, Shama Bibi (26) und Shahzad Masih (28), hatten angeblich Seiten aus dem Koran verbrannt. Ein fanatisierter Mob verprügelte sie, zerrte sie um die Felder der Ziegelei, in der sie schufteten, und stieß sie lebendig in einen Ziegelofen.

Der Eigentümer hatte laut Polizeierkenntnissen einen islamischen Prediger dazu angestiftet, das Ehepaar öffentlich der Blasphemie zu beschuldigen. Als „barbarischen Akt“ bezeichnete seinerzeit Kardinal Jean-Louis Tauran die Tat und forderte die islamischen Autoritäten auf, die Tat zu brandmarken.

Gastgeberin Aneeqa Anthony vertritt die Interessen der überlebenden Kinder Poonum, Sonia und Salman vor Gericht, die in diesem Jahr vier, sechs und neun Jahre alt werden. Anthonys Organisation, The Voice Society, leistet dazu nicht nur Rechtshilfe, sondern auch humanitäre Unterstützung.

Den kleinen Salman besucht die Autorin im Krankenhaus: Beim Spielen hat er sich verletzt, in seine tiefe, mehrere Zentimeter lange Wunde waren Keime eingedrungen. Starr und ängstlich blickt er auf dem Bett sitzend auf sein Bein, das mit roten Flecken übersät ist. Den Besuch nimmt er gar nicht wahr, nicht einmal, als er sich neben ihn setzt und ihn anblickt. Neben ihm im selben Bett liegt noch ein Baby. Alle Betten in diesem öffentlichen Krankenhaus in Ferozepur sind mit zwei Kindern belegt. Nach einigen Tagen erst kann er wieder zu seinem Großvater und seinen kleinen Schwestern zurückkehren. Wenn nicht ein grausames Verbrechen ihn seiner Eltern beraubt hätte, wäre Salman jetzt eines der Kinder, die schon von klein auf ihre versklavten Eltern in der Ziegelei unterstützen müssen.
Bei einem Besuch einer solcher Ziegelei treffen wir ein Mädchen im Alter von Salman, das um Ziegelklötze herumrobbt, diese mit ihrer 40-jährigen Mutter in der Sonne von einer Seite auf die nächste dreht. Diese sollen ja nur gut durchtrocknen, bevor sie im Ziegelofen gebrannt werden können.

Foto: Michaela Koller | Christen sind von der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen in Pakistan besonders betroffen, wie hier in dieser Ziegelei, wo auch Kinder unter unwürdigen Bedingungen schuften müssen.
Foto: Michaela Koller | Christen sind von der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen in Pakistan besonders betroffen, wie hier in dieser Ziegelei, wo auch Kinder unter unwürdigen Bedingungen schuften müssen.

In einer Form aus Holz und Eisen sind die Klötze zuvor aus dem Lehm des Feldes geformt worden. Ein Arbeiter sitzt dazu den ganzen Tag barfuß in einem staubigen Kittel auf dem blanken Boden. Rund tausend Mal muss er den Vorgang am Tag wiederholen, tausendfach den Lehm glattpressen und stürzen, bis er seine drei Euro pro Tag zugestanden bekommt. Erreicht er das Quantum nicht, erhält er auch seinen Lohn nicht.

Sein Part ist noch leicht im Vergleich zum nächsten Arbeitsschritt: Wie kleine Vulkane wirken die rauchenden Luftschächte zum nach oben offenen Ofen, der selbst ganz aus Ziegelsteinen gebaut ist und wohl eine Hitze von 1 000 Grad erreicht. Vorsichtig bewegen wir uns hinter den Gastgebern über den Ofen hinweg, unter den Sohlen wird es bereits gefährlich heiß. Die Arbeiter, die frisch gebrannte Steine auf Schubkarren davonfahren, sind schweißgebadet, dabei ist gerade noch Winter.

Unter diesen Bedingungen hat sich der Arbeiter Keramat Masih seine ohnehin angeschlagene Gesundheit endgültig ruiniert. Er kommt am folgenden Tag zu Aneeqa Anthony nach Lahore-Cantt, wo die obere Mittelklasse in engen Straßen hinter hohen Mauern lebt. Seine dicke schwarze Wollmütze ist weit nach oben gerutscht, als er von dem Unrecht berichtet, das ihn hier Hilfe suchen lässt: „Mir gehörte ein Haus, Ponys und Karren, als ich begann, als Arbeiter in einer Ziegelei zu arbeiten.“

Der Landeigentümer, der die Ziegelei betreibt, versucht ihm bald einen Kredit aufzudrängen, sieht aber, dass der Christ in seinem bescheidenen Lebensstil durchaus unabhängig ist. Der mächtige Besitzer wird wütend, lässt auf den armen Keramat einprügeln und erpresst so, ihm alles, was er noch besitzt, zu überschreiben. Der Arbeiter ist schwer nierenkrank und die Leber ist ebenfalls angegriffen. Fast kraftlos erzählt er seine Geschichte und berichtet von seiner Hoffnung, auf dem Rechtsweg doch noch sein Eigentum zurückzuerhalten.

Ein Tag nach dem Gespräch klingelt das Telefon bei Aneeqa Anthony. Keramat sei zusammengebrochen, benötige Unterstützung für einen Krankenhausaufenthalt. Wieder einen Tag später ereilt sie ein Anruf: Keramat Masih ist tot, Gerechtigkeit hat er zu Lebzeiten nicht mehr erfahren dürfen.

Christen sind von der Sklaverei ähnlichen Arbeitsverhältnissen in Pakistan deshalb besonders betroffen, weil viele Hindus der unteren Kasten oder Kastenlose zum Christentum konvertierten. Sie versprachen sich davon Freiheit. Sie werden nicht nur wegen ihrer christlichen Überzeugung diskriminiert, sondern zudem auch wegen ihrer Herkunft.
Im Fall des wegen Blasphemie beschuldigten pakistanischen Christen Pervaiz Masih, ebenfalls ein Ziegelei-Arbeiter, hatte Anthony bislang als Anwältin mehr Glück. Er verdiente sich als Arbeiter noch nebenbei etwas dazu und kam bald einem Konkurrenten ins Gehege, der ihn fälschlich der Beleidigung Mohammeds bezichtigte. Der vierfache Familienvater aus der Nähe der Stadt Kasur (Provinz Punjab) wurde bereits einen Monat nach der Festnahme gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen. Es handelt sich um einen der seltenen Fälle in der pakistanischen Geschichte, in dem bereits die erste Gerichtsinstanz einem Kautionsantrag der Verteidigung zustimmte. Der Bezirk Kasur gilt sogar als Gegend, in der ein rigides islamisches Rechtsverständnis vorherrscht, ein Landstrich, in dem sich die Menschen in den Dörfern leicht von Hasspredigern aufhetzen lassen. Pervaiz musste sogar befürchten, gelyncht zu werden und war daher zeitweise untergetaucht. Als die Polizei ihn suchte, zeigte sie sich äußerst parteiisch, misshandelte sogar seine Familie und bedrohte später auch Aneeqa Anthony und ihr Team, als dieses in dem Fall ermittelte. Lächelnd, in einem pastellgelben Shalwar Kameez – der Landestracht –, kommt er seine Anwältin aufsuchen. Er und seine Familie leben inzwischen in einem anderen Dorf. An diesem Samstag wird sein Fall vor dem Gericht in Kasur verhandelt. Er ist guter Dinge, von den Vorwürfen freigesprochen zu werden. „Wir haben die stärkere Macht auf unserer Seite. Das ist Gott“, sagt seine Anwältin.